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Anna Gliemer von Gleem in Hamburg im Interview

03 May 2021

Anna Gliemer ist self-made-Patissier. Aus der Not heraus begann sie schon zu Teenagerzeiten sich ihr eigenes Essen zuzubereiten. Schließlich ist es nahezu unmöglich Lebensmittel herzubekommen, die vegan, glutenfrei und industriezuckerfrei sind. Um diese Lücke auch für andere zu schließen, machte sie sich 2015 mit gleem, der ersten Naturpatisserie Deutschlands, selbstständig. Fünf Jahre später produziert sie noch immer Pralinen, Rawnies und Desserts, die den besagten Lebensmittelunverträglichkeiten gerecht werden – größtenteils in Rohkostqualität. 


2020 holte Anna die Kulinarische Schnitzeljagd nach Hamburg und somit in die erste Stadt außerhalb NRWs. Im coronasicheren Telefon-Interview verriet sie uns unter anderem, wie es dazu kam, warum die Kulinarische Schnitzeljagd so gut in die Hansestadt passt und warum rohe Naschereien so gesund sind.


Wie bist du Patissier geworden? Das war alles learning by doing. Ich habe BWL studiert mit dem Schwerpunkt auf Marketing und bin dann aus der Not dazu gekommen, mir mein Essen selber so zuzubereiten, wie ich es möchte, weil ich verschiedene Lebensmittelunverträglichkeiten habe. Viele Sachen gibt es so einfach nicht zu kaufen, auch heute noch nicht. Es ist immer irgendetwas von einer Eigenschaft erfüllt, aber es ist so gut wie nie alles vegan, glutenfrei und ohne Zuckerzusatz. Daraus ist das Ganze entstanden und die Rezepte haben sich über die Jahre weiterentwickelt. Ich mache das seit 2015.


Ich gehe davon aus, dass du all deine Rezepte selbst entwickelst? Ja genau. Wobei ich immer sage, dass ich das Rad auch nicht neu erfunden habe. Irgendwo gibt es dann immer schon alles in irgendeiner Form. Man holt sich dann Inspiration und versucht das auf seine Arbeitsphilosophie anzupassen. Wenn ich eine Schwarzwälder Kirsch Torte machen möchte, muss ich mir halt überlegen, woraus ich die Sahne mache. Oder wie ich einen fluffigen Biskuitboden hinbekomme, ohne den zu backen und ohne Zucker zu benutzen.  


Zum Namen deiner Patisserie: Wie kam es, dass aus deinem Nachnamen Gliemer, das Kunstwort gleem wurde? Den Namen hat sich ein ehemaliger Arbeitskollege von mir ausgedacht. Ganz zu Anfang habe ich, weil meine Pralinen alle gleich aussehen, recyceltes Blattgold drauf gepinselt um sie voneinander zu unterscheiden und dann hat mein Kollege das vom Englischen to gleam abgeleitet, das strahlen oder glänzen bedeutet. Und in Kombination mit meinem Nachnamen entstand dann gleem. 


Du benutzt ja ausschließlich Kakao aus ungerösteten Kakaobohnen. Was hat es damit auf sich? Bei der Kakaobohne ist es so, dass die Bohnen gepflückt und fünf bis sechs Tage fermentiert werden. So kommt erst das Kakaoaroma zustande und es entsteht aber auch eine gewisse Säure. Die Bohnen werden dann anschließend getrocknet und üblicherweise auch geröstet. Unsere Kakaobohnen sind ungeröstet und werden in eine Walze gegeben, in der man auch Olivenöl pressen könnte. Man mahlt die Kakaobohnen so lange, bis eine Masse entsteht, mit der wir dann die Pralinen überziehen. Mehr ist das nicht. 

Worin liegt letztendlich der Unterschied zwischen gerösteten und ungerösteten Kakaobohnen? Dass geröstete Kakaobohnen ein weiterer Arbeitsschritt wären? Ja genau, es wäre ein weiterer Verarbeitungsschritt. Außerdem hast du verschiedene Nährstoffe, die relativ unempfindlich sind aber auch welche wie Vitamin C, die sich bei Hitzeeinwirkung verflüchtigen. Ich habe mir damals überlegt, dass ich meine Zutaten so roh wie möglich lasse, wenn ich sowieso so wenig weiterverarbeite und erhitze, damit der Nährstoffgehalt möglichst hoch ist.


Inwiefern unterscheidet sich das geschmacklich? Unsere Kakaomasse ist richtig sauer. Wenn man die pur isst, denkt man sich „krass, das ist überhaupt nicht lecker!“ (lacht). Wenn du das Ganze dann aber über den Pralinen hast, hat das wieder einen komplett anderen Charakter. 


Das wird dann wahrscheinlich durch die Süße in den Pralinen kompensiert?Genau, richtig. Du riechst die Säure, wenn wir die Charge aufmachen oder die Masse temperieren. Das ist vergleichbar mit einer milden oder starken Röstung beim Kaffee. Klar, durch das Rösten bekommst du nochmal andere Aromen in den Kakao, du verlierst aber auch welche. Und deswegen schmecken die Sachen einfach anders. Es ist ja auch so, dass wenn wir ein komplett rohes Produkt verwenden, brauchen wir auch richtig gute Ware. Das ist für die Industrie oft zu teuer. Wenn du röstest, kannst du da auch nicht mehr so frische Kakaobohnen verwenden. Es gibt Aufbereitungsmaschinen und wenn du kontaminierte Kakaobohnen hast, kommen sie da rein, werden sterilisiert und so bearbeitet, dass sie hinterher bedenkenlos weiterverarbeitet werden können. Da kann man sich vorstellen, warum ein Beutel Pralinen manchmal nur wenige Euro kostet, wenn man bedenkt, welche Rohstoffe dafür eingekauft wurden. Auch die Arbeitsbedingungen spielen eine Rolle für uns. Wir unterstützen kleine Farmer-Kooperativen in Zentralbali, Ecuador und Peru.

Copyright: Christopher Große-Cossmann

 Du verkaufst Pralinen, zu denen du auch Dominosteine zählst, Rawnies und Desserts. Worin unterscheiden sich diese drei Kategorien? Die Rawnies unterscheiden sich im Vergleich zu den Pralinen dadurch, dass sie einen Kuchencharakter haben. Sie sind von der Struktur her gröber, weil sie Kokosflocken und Nüsse mit drin haben oder Erdmandelmehl, wie bei den Hamburger Franzbrötchen Rawnies zum Beispiel. Die Pralinen haben einen Schokoladenüberzug und sind von der Textur her feiner, wie Trüffel. Außerdem gibt es auch noch Fruchtpralinen, da sind keine Datteln drin und die sind auch nicht mehr vegan, weil die mit Honig gesüßt werden. Die sind von der Textur her auch nochmal anders als die normalen Schokoladenpralinen. Und dann gibt es noch die Desserts, die von der Konsistenz her wie eine Cremetorte sind. Die brauchen teilweise auch bis zu vier Tage bis sie fertig sind, weil wir verschiedene Vorgänge haben. Beispielsweise die Fermentation von Nusscremes oder den rohen Biskuitteig aus Buchweizen und Zucchini, der zwei Mal vier Stunden von jeder Seite trocknen muss, bevor wir den weiterverarbeiten können. Die Desserts sind schon aufwändiger.


Kann man die Desserts dann auch online bestellen oder sind die eher zur Abholung gedacht? Ich stelle das jetzt alles um, weil wir uns überlegt haben, die Desserts jetzt im Weckglas zu machen, damit ich sie eben besser verschicken kann. Denn die Desserts, die ich im Moment anbiete, lassen sich nicht gut in meinen Verpackungen verschicken. Im Weckglas würde das aber gut funktionieren. Das gehen wir jetzt an.


Deine Bio-Dominosteine Nord wurde von einem Hoodie inspiriert. Wie hat man sich das vorzustellen, wenn ein Kleidungsstück die Inspiration für eine gesunde Nascherei darstellt? Das Label wird von Freunden von mir betrieben und mir hat schon immer ihr Schriftzug, Nørd super gut gefallen. Ich habe aufgrund des Wortes lange Zeit gedacht, das hätte etwas mit dem Wort Norden oder norddeutsch zu tun. Das bedeutet es aber gar nicht! Das Wort Nørd mit dem O mit dem Schrägstrich wird wie Nerd ausgesprochen und bedeutet es auch. Meine ursprüngliche Idee war, einen norddeutschen Dominostein zu kreieren. Mit Buchweizen, Honig und so vielen regionalen Zutaten wie möglich. Letztendlich passt der von Norddeutschland inspirierte Dominostein aber trotzdem auch zur eigentlichen Bedeutung von Nørd, weil er ganz schön ausgefuchst ist in seiner Rezeptur und auch nicht so einfach herzustellen ist. Das passt also trotzdem vom Wording her und so kam es zu dieser Kooperation. 


Gleem ist dein Baby, aber inzwischen tobst du dich unter dem Deckmantel the food auch mit herzhaften Gerichten in Pop-up Restaurants aus. Kannst du uns darüber mehr erzählen? Meine Freunde wissen, dass ich nach demselben Prinzip koche, wie ich auch meine Patisserie führe und dann habe ich das Catering für ein, zwei Veranstaltungen gemacht und dachte „ja klar, sowas solltest du das öfter machen!“ So hat sich letzten September the food gegründet. Eigentlich wären für dieses Jahr auch einige Events geplant gewesen, die sich durch die gegebene Situation dann aber zerschlagen haben. Das erste Mal konnte ich dann im Pop-up Restaurant des foodlab einen Restaurantbetrieb führen. Da konnten wir einen Mittagstisch ausprobieren und weil mir das Spaß gemacht hat, habe ich dann im Hobenköök angefragt, ob ich da im September ein Abendessen mit mehreren Gängen ausrichten darf und das kam so gut an, dass wir das jetzt auch für Januar geplant haben. Wobei das natürlich noch in den Sternen steht, ob wir das umsetzen können.


Inwiefern hast du die Auswirkungen von Corona in diesem Jahr zu spüren bekommen? Es war auf jeden Fall gut, dass ich eh` schon einen Onlineshop hatte, der hat uns natürlich ein bisschen aufgefangen, da die Gastro ja vorübergehend nicht mehr bei uns bestellt hat. Auch jetzt, im November, habe ich gar keine Auslieferungen mehr an die Gastro, das merke ich schon. Ich habe in Hamburg ja nur Hobenköök als Einzelhandelsabnehmer.


War Corona der Anlass für deine Onlinekurse oder gab es die schon vorher?  Nein, das ist wirklich daraus entstanden. Innerhalb von fünf Tagen habe ich überlegt, wie ich damit umgehen soll, dass ich meine Kurse absagen muss und habe dann beschlossen, die online zu machen. Das hat so gut funktioniert, dass ich jetzt gar nicht mehr so viel Lust auf offline-Kurse habe, weil meine Küche dann sauberer bleibt (lacht). Und außerdem können dann auch Leute von außerhalb mitmachen.


Du hast 2020 die erste Kulinarische Schnitzeljagd in Hamburg organisiert. Wie kam es dazu? Dadurch, dass ich mit vielen in der Food-Szene vernetzt bin, kam Christin vom foodlab auf die Idee, dass ich die Kulinarische Schnitzeljagd organisieren könnte, weil ich einige Gastronomen hier kenne und auch gerne mit dem Fahrrad fahre, was sie wusste. So sind wir dann zusammengekommen.


Was gefällt dir an dem Konzept der Kulinarischen Schnitzeljagd und warum passt es so gut nach Hamburg? Ich mag das Konzept, weil man neue Sachen kennenlernt, die man sonst vielleicht nicht ausprobiert hätte. Nach Hamburg passt es so gut, weil es hier so viele Stadtteile gibt und viele aus ihrem Stadtteil gar nicht rauskommen. Warum auch? Deswegen finde ich das total cool, dass du durch die Kulinarische Schnitzeljagd gezwungen wirst, mal rauszukommen und neue Sachen auszuprobieren. Nicht nur kulinarisch, sondern auch mit dem Fahrrad neue Wege zu erkunden.


Für nächstes Jahr planst du doch auch die erste Kulinarische Schnitzeljagd in Braunschweig? Ja, ich komme gebürtig aus Braunschweig und Braunschweig hat super schöne Ecken und erinnert mich teilweise auch an Hamburg mit den Flüssen und den alten Fachwerkbauten. Ich finde, das ist eine Stadt, die es zu entdecken gilt. Genauso wie die Gastro dort, die sich wirklich gut entwickelt.

Stichworte: Interview  Hamburg 

Über die Kulinarische Schnitzeljagd

Die Kulinarische Schnitzeljagd ist eine Genusstour, bei der die Teilnehmer Hamburg neu erschmecken, allein oder mit Freunden, auf dem Rad oder anders.
In unserem Genussmagazin stellen wir Restaurants, Cafés und Feinkostläden vor und veröffentlichen Interviews und Berichte zu kulinarischen Themen.